
Süchte
Jegliche Süchte verunmöglichen es, eine nahe, vertraute Beziehung zu einem Menschen einzugehen. Arbeitssucht ist eine bevorzugte Suchtform, um andere süchtige Verhaltensweisen zu rationalisieren. Süchte vereinen Gefühle von Scham, Schuld und Angst, ein Bedürfnis nach Kontrolle, die Suche nach dem nächsten «Kick» und Befriedigung, Aufrechterhaltung eines gewünschten «Selbstbildes» , Aufrechterhalten einer «sicheren» Distanz sowie einem Leben in einer «perfekten» Phantasiewelt.
Wollen wir einem anderen Menschen nahe sein, müssen wir zunächst einmal wissen, wer wir sind, was wir fühlen, was wir denken, wo unsere Stärken liegen, was uns wichtig ist und was wir wollen. Wenn wir all das für uns selber nicht wissen, wie sollen wir dann einen anderen Menschen daran teilhaben lassen? Süchtige sind nicht in der Lage, Nähe zu sich selbst herzustellen, denn sie haben ihr inneres Informationssystem mit Hilfe ihrer Sucht abgeschaltet. Infolgedessen mangelt es ihnen an Informationen über ihre Gefühle, ihre Gedanken und ihr Selbstbild.
Beziehung und Intimität
Beziehung als solches bedeutet vielleicht schlicht die Tatsache, mit jemand anderem anwesend zu sein. Auch die Nähe zu sich selbst meint vielleicht nur, mit sich selbst anwesend zu sein. Erst dann sind wir in der Lage, uns selbst in eine Beziehung einzubringen. Nähe zu einem anderen Menschen setzt Nähe zu uns selbst voraus.
Genesung
Wollen wir uns von zerstörerischen Beziehungen losreissen, müssen wir zunächst erkennen, dass wir Opfer waren, misshandelt wurden; um diesen Tatbestand herum muss sich unsere Prozessarbeit konzentrieren, wir müssen mit unseren Gefühlen arbeiten und dann voranschreiten. Sobald wir unseren Prozess auf andere Menschen abladen, müssen wir auf Gegenschläge gefasst sein. Zunächst müssen wir uns eingestehen, dass überhaupt ein Problem vorliegt; sodann müssen wir die Zeit und die Sicherheit haben, um uns durch unsere Gefühle durchzuarbeiten; und schliesslich müssen wir uns zu dem Anteil bekennen, mit dem wir ein krankes System aufrechterhalten. Gewiss muss eine Genesung damit einsetzen, sich der extremen Abhängigkeit – die schliesslich Sucht bedeutet – zu stellen. Sucht ist Abhängigkeit. Die Sucht an sich setzt Abhängigkeit voraus.
Es ist ein Zugewinn an Freiheit, wenn ein Mensch die Verantwortung für sein eigenes Leben und seine Wünsche übernimmt, selbst wenn dies nicht mit den gesellschaftlich akzeptierten Verhaltensmustern übereinstimmt. Oftmals glauben Süchtige (und Co-Abhängige), dass sie nicht stark genug sind, um die Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen. Tun sie dies dann doch, werden sie paradoxerweise meist stärker.
Die Ursache für die Weiterführung toxischer Beziehungen liegt grösstenteils in der Angst. Zwar ist Angst etwas völlig anderes als Abhängigkeit, und doch gehen beide oft miteinander einher. Vermutlich ist Abhängigkeit eine Folge von Angst. Gemäss Anne Wilson Schaef bleiben die meisten Menschen aus Angst vor ihren Lebensgefährten und aus Angst vor der Trennung in zerstörerischen Beziehungen. Angst lähmt jede Aktivität, und das Aufrechterhalten des Status quo nährt die Illusion der Kontrolle. Es ist nur zu verständlich, weshalb Nähe und Intimität in dieser Art von Beziehungen keinen Platz haben. Die Vereinnahmung durch die Sucht ist so gross, dass Nähe unterdrückt wird. Nicht jede Intimität muss physischer Art sein, und nicht jede körperliche Intimität ist gleichbedeutend mit Sexualität. Normalerweise erwachsen wahre sexuelle und körperliche Intimität aus einem Prozess, in dem Nähe wächst, und der muss eine Geschichte haben. Nähe lässt sich nicht inszenieren. Sie beginnt mit dem Selbst, sich selbst zu kennen und mit sich selbst anwesend zu sein.
Gesunde Beziehungen
Anne Wilson Schaef (1992) beschreibt Leibe als ein unendliches Zeichen, das zwischen zwei Menschen fortwährend hin- und herströmt. Liebe ist ein Energiefluss, der von der Herzgegend eines Partners ausströmt und beim Solarplexus des anderen eintritt. Sodann durchströmt diese Energie den Körper, wird vom Empfänger – demjenigen, der geliebt wird – aufgenommen und durch neue Energie vermehrt, da der Empfänger ebenfalls liebt. Schliesslich wandert die Liebesenergie in die Herzgegend und wird zum Partner zurückgesendet, und der gesamte Prozess wiederholt sich. Damit dieser endlose Prozess jedoch funktioniert, müssen zuvor zwei Unendlichkeitszeichen wirksam werden. Jeder Partner muss, damit sein interpersonaler unendlicher Prozess ablaufen kann, zu seinem Selbst Nähe empfinden. Man könnte dies folgendermassen darstellen:

In gesunden Beziehungen finden sich eigentlich fünf Beziehungen gleichzeitig.
– Die Beziehung mit dem Selbst ist gewissermassen der Grundstein jeder Beziehung. Beide Partner müssen bis zu einem bestimmten Grad ihr Verleugnungssystem durchbrochen, ein Mindestmass an Ehrlichkeit sich selbst gegenüber erreicht haben und bereitwillig die Verantwortung für sich übernehmen. Im Allgemeinen muss jeder Partner seine eigene Persönlichkeit wahren. Die Beziehung mit dem Selbst ist gleichzeitig eine Quelle der Zufriedenheit und Erweiterung, sie muss jedoch geduldig gepflegt werden, um sich zu entwickeln. Sie erfordert auch Zeit für sich selbst, zur Besinnung, Zeit zur Bereicherung der eigenen Spiritualität.
– Die beiden nächsten in intakten Bindungen vorliegenden Beziehungen sind diejenigen, welche zwei Menschen in ihrer Phantasie mit ihrem Partner haben. In gesunden Beziehungen müssen sich diese phantasierenden Beziehungen bewusst gemacht, untersucht und dem Partner mitgeteilt werden.
– Als fünfte wäre die aktuell existierende Beziehung zwischen zwei Menschen zu nennen. Hierunter ist der bereits erwähnte unendliche Energiefluss zwischen zwei oder mehreren Menschen zu verstehen.
Diese fünfte Beziehung fehlt in allen Suchtbeziehungen. Wer in einer Suchtbeziehung lebt, redet zwar unentwegt davon, dass er an «der» Beziehung arbeitet, die doch in Wirklichkeit gar nicht vorhanden ist. In gesunden Beziehungen steht das Respektieren des eigenen Prozesses im Zentrum. Zu jeder intakten Beziehung gehört die Unterstützung des Partners, aber das bedeutet nicht, dass man sich darauf konzentriert, den anderen «heil zu machen». Vielmehr respektieren beide Partner den Prozess ihres Gefährten und wissen, dass jeder das tun muss, was für ihn ansteht.
Bindung heisst, sich dem eigenen Prozess verpflichtet zu fühlen, den Partner daran teilhaben zu lassen sowie auch seinen Prozess zu respektieren. Dies schliesst auch das Verständnis mit ein, dass der Partner Zeit für seine Spiritualität benötigt.
Eine gesunde Beziehung ist einem offenen System vergleichbar, in dem Informationen gesammelt, erörtert und verarbeitet werden, die sowohl aus dem Inneren der Partner und der Beziehung stammen als auch von aussen einfliessen. Beide erkennen, dass diese Beziehung nicht isoliert dasteht und etwas «Besonderes» ist, dass sie innerhalb eines grösseren Kontextes steht und dennoch, für sich genommen, sehr wichtig ist. Aus diesem Grund braucht jede gesunde Beziehung die Wahlfreiheit des einzelnen, wobei die Entwicklung von Alternativen Wachstum und Kreativität fördert. Wahlmöglichkeiten stellen keine Bedrohung dar.
Important
In Teil I gibt es eine generelle Einführung zu Romanzen-, Beziehungs- und Sexsucht. In Teil II finden Sie eine Weiterführung zu Süchten, Genesung, Nähe und Intimität sowie gesunde Beziehungen. Möchten Sie die eigene Persönlichkeitsentwicklung vorantreiben, dann empfehle ich die Basic Education TA oder ein 1:1 Coaching/Beratung.
Referenzen
Wilson Schäf, A., Die Flucht vor der Nähe – Warum Liebe, die süchtig macht, keine Liebe ist, 1997, dtv.